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1. Advent – Die leise Ankunft Gottes in einer aufgewühlten Welt

  • rogertroger
  • 29. Nov.
  • 3 Min. Lesezeit

Der 1. Advent markiert jährlich einen Neubeginn. Er eröffnet nicht nur das Kirchenjahr, sondern lädt zu einer inneren Bewegung ein, die in der modernen, reizüberfluteten und hochverdichteten Welt von besonderer Bedeutung ist: die Bewegung vom lauten Aussen ins achtsame Innen.


Advent ist Erwartung – aber nicht im Sinne eines hektischen Wartens. Advent ist das bewusste Wahrnehmen eines Gottes, der sich nicht distanziert verhält, sondern sich für den Menschen interessiert. Der christliche Glaube formuliert dies radikal: Gott bleibt nicht in der Höhe, er bleibt nicht abstrakt, er bleibt nicht unberührt. Er wird Mensch.


Diese Inkarnation – der Weg „nach unten“, hinein in die konkrete Welt – wäre theologisch undenkbar, wenn Gott sich nicht für den Menschen, für seine Grenzen, seine Hoffnungen und seine Verletzlichkeit interessieren würde. Das Kommen Christi ist daher keine göttliche Geste der Macht, sondern ein Akt der Nähe. Ein Akt der Ethik im tiefsten Sinne: Gott nimmt den Menschen so ernst, dass er seine Perspektive teilt.



1. Advent und Neurosensitivität: eine theologische Parallele



Menschen mit einer erhöhten Sensitivität – sei sie allgemein-, vorteils-, oder vulnerabel-sensitiv – erleben die Welt nicht nur intensiver, sondern oft auch „tiefer“. Sie nehmen Zwischentöne, Atmosphären und Bedeutungsnuancen wahr, die anderen entgehen. Die Neurowissenschaft beschreibt dies als Folge stärker arbeitender Spiegelneuronen, einer aktiveren Insula und einer tieferen Informationsverarbeitung.


Was in der Alltagskultur häufig als „zu viel“ bezeichnet wird, ist in Wahrheit ein Potenzial, das in der Adventszeit besonders sichtbar wird: die Fähigkeit, feine Regungen wahrzunehmen. Die leisen Töne. Das, was nicht schreit – aber trägt.


Der 1. Advent ruft genau dazu auf: die kleine Flamme zu sehen, nicht das grelle Licht. Das zarte Kommen zu würdigen, nicht nur das laute Erscheinen.


In der Theologie spricht man hier von der „Kenosis“ Gottes – dem Sich-Entäussern, dem Entgegenkommen, dem freiwilligen Sich-Kleinmachen. Hochsensitive Menschen kennen diese Bewegung intuitiv: Sie spüren, wie viel beginnt, bevor es sichtbar wird.



Göttliche Menschlichkeit als ethische Herausforderung



Der Gedanke, dass Gott Mensch wurde, stellt nicht nur eine dogmatische Aussage dar, sondern ein ethisches Programm. Wenn Gott sich so radikal dem Menschen zuwendet, dann ist auch der Mensch eingeladen, sich dem Menschen zuzuwenden.


Der 1. Advent fordert uns daher auf:


  • den Wert der Verletzlichkeit zu erkennen;

  • Empathie als Stärke zu verstehen, nicht als Schwäche;

  • die Feinwahrnehmung anderer nicht zu pathologisieren, sondern als Ressource zu betrachten;

  • menschliche Begrenzungen ernst zu nehmen – die eigenen und jene der Mitmenschen;

  • Verantwortung für jene zu übernehmen, die leiser sprechen oder schneller überfordert sind.



Göttliche Menschlichkeit ist eine Erinnerung daran, dass Würde nie von Leistung abhängt und dass jedes Leben – gerade das empfindsame – ein Echo der göttlichen Aufmerksamkeit ist.



Advent als Raum der Rückkehr



Der 1. Advent eröffnet einen Prozess der inneren Heimkehr: zurück zur Stille, zurück zur Wahrnehmung, zurück zu dem, was trägt. Gerade neuro-sensitive Menschen erleben diese Zeit als Möglichkeit, ihre Wahrnehmungsfähigkeit nicht gegen sich zu wenden, sondern als Quelle von Sinn und Tiefe zu nutzen.


Die adventliche Botschaft lautet nicht: „Halte mehr aus.“

Sondern: „Lass Dich finden.“


Gott kommt nicht, weil wir perfekt vorbereitet wären.

Er kommt, weil er interessiert ist.

An uns.

In unserer Ganzheit.

Mit unseren Stärken, unseren Bruchstellen – und unserer Sensitivität.



Schlussgedanke



Der 1. Advent ist nicht der Beginn einer hektischen Jahresendphase. Er ist der Beginn einer theologischen Zumutung: dass der unendliche Gott sich so sehr für den endlichen Menschen interessiert, dass er dessen Welt betritt.


Wenn wir eine Kerze anzünden, erinnern wir uns daran, dass das Licht zuerst leise kommt. So wie Empathie leise beginnt. So wie Nähe leise beginnt. So wie Hoffnung leise beginnt.


Und vielleicht ist das der tiefste adventliche Impuls:


Gott sucht den Menschen – und findet ihn dort, wo er wirklich ist.

 
 
 

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