2. Advent: Warten lernen – Vorbereitung zwischen innerem Aufbruch und äusseren Dynamiken
- rogertroger
- 7. Dez.
- 4 Min. Lesezeit
Der 2. Advent steht traditionell im Zeichen einer Stimme, die seit zweitausend Jahren nicht an Kraft verloren hat: Johannes der Täufer.
Eine Stimme „in der Wüste“, ruft er.
Eine Stimme, die vorbereitet, die wachrüttelt, die einlädt, sich selbst und die eigene Welt neu auszurichten.
Advent bedeutet nicht nur, dass etwas kommt.
Advent bedeutet auch, dass wir in Bewegung kommen – innerlich wie äusserlich.
Doch gerade diese doppelte Bewegung fällt in einer Gegenwart voller Ablenkungen, Beschleunigungen und Erwartungen schwer. Der Advent wird gesellschaftlich oftmals zu einer Projektionsfläche für Konsum, Effizienz und Planungsdruck. Das Warten wird zu einem organisatorischen Problem, nicht zu einer spirituellen Haltung.
Johannes erinnert uns an eine andere Perspektive:
Warten ist nicht Passivität.
Warten ist eine Form der Vorbereitung.
Und Vorbereitung ist ein zutiefst ethischer Prozess.
1. Die Wüste als innerer Raum: Warum wahres Warten Distanz schafft
Die Evangelien porträtieren Johannes nicht zufällig in der Wüste.
Die Wüste ist kein Ort der Leere, sondern ein Ort der Entleerung:
Ein Raum, in dem das Unnötige abfällt und das Wesentliche hörbar wird.
Für viele hochsensitive Menschen – und hier knüpft die Forschung von Dr. Patrice Wyrsch an – ist dieser Prozess besonders bedeutsam. Wer mehr wahrnimmt, mehr verarbeitet, emotional tiefer eintaucht, erlebt Warten nicht als „nichts tun“, sondern als ein ständiges Ringen zwischen innerem Reichtum und äusseren Anforderungen.
Warten kann überfordernd wirken, weil die Zeit sich ausdehnt und die Gedankenräume sich füllen.
Doch gerade darin liegt eine spirituelle Chance:
Warten wird zum Spiegel der eigenen inneren Landschaft.
Johannes ruft:
„Bereitet den Weg des Herrn.“
Bevor ein Weg bereitet werden kann, muss der Blick frei werden.
Warten ist damit eine Form der inneren Klarheit.
Warten ist ein Sich-Ausrichten.
2. Äussere Dynamiken: Zwischen gesellschaftlichem Druck und persönlicher Sehnsucht
Unsere Zeit kennt wenig Geduld.
Die ökonomischen Logiken unserer Gesellschaft – Effizienz, Beschleunigung, Optimierung – prägen längst auch die inneren Rhythmen vieler Menschen. Selbst im Advent spüren wir diese Spannung: Erwartungen steigen, Termine verdichten sich, soziale Dynamiken werden komplexer.
Hier entsteht ein ethisches Problem:
Warten wird zur Belastung, sofern es nur als Verzögerung erfahren wird.
Warten wird zur Zumutung, wenn die Welt weiterläuft, während man selbst zur Stille gerufen wäre.
Der Täufer stellt in dieser Situation eine provokative Frage:
Worauf wartest du eigentlich – auf etwas Äusseres oder auf eine innere Veränderung?
Die christliche Tradition hält beides zusammen:
Die Ankunft Gottes in der Welt ist ein äusseres Ereignis –
und zugleich ein inneres Geschehen.
Die Inkarnation zeigt, dass Gott sich für uns interessiert.
Der Advent erinnert daran, dass Vorbereitung kein Selbstzweck ist, sondern Beziehung.
Und Beziehung hat immer zwei Seiten:
Ein äusseres Gegenüber – und eine innere Bereitschaft.
3. Die Ethik des Wartens: Verantwortung im Übergang
Warten als Tugend wird in der Philosophie oft unterschätzt. Dabei ist es ein moralisch hoch aufgeladener Zustand.
Wer wartet, erkennt an, dass nicht alles verfügbar ist.
Dass nicht alles planbar ist.
Dass nicht alles kontrollierbar ist.
Warten bedeutet, die Grenzen der eigenen Macht anzuerkennen.
Und gerade darin liegt Würde.
Johannes der Täufer lebt diese Haltung radikal:
Er macht sich nicht selbst zum Mittelpunkt.
Er bereitet vor – und tritt zurück.
Er nimmt seine Rolle ernst, ohne sie zu überschätzen.
Für Menschen, die neuro-sensitiv sind und soziale wie sensorische Dynamiken tiefer wahrnehmen, ist dieses Motiv wertvoll: Nicht alles muss sofort geklärt sein. Nicht jede Reaktion muss sofort beantwortet werden. Nicht jeder innere Impuls verlangt eine äussere Handlung.
Vorbereitung ist ein Prozess der Verlangsamung.
Warten ist ein Akt der Selbstwahrnehmung.
4. Innere Erwartung: Wenn das Kommen bereits in uns beginnt
Advent ist der Moment, in dem die Erwartung wächst.
Nicht die Ungeduld, sondern die Erwartung.
Wer erwartet, spürt bereits eine Form von Gegenwart.
Die Zukunft berührt die Gegenwart, das Noch-Nicht wird zur leisen Ahnung.
In der Psychologie hochsensitiver Menschen zeigt sich etwas Ähnliches:
Innere Erwartung kann ein Resonanzraum sein, in dem Vorstellungen, Gefühle und Wahrnehmungen intensiver werden. Erwartung ist ein kreativer Prozess: Die Zukunft beginnt in der inneren Bilderwelt.
Johannes lädt dazu ein, diese Erwartung bewusst zu gestalten:
Was soll in mir wachsen?
Welche Haltung soll sich vertiefen?
Welche Beziehung soll erneuert werden?
Die Vorbereitung ist kein äusserer Aktivismus, sondern eine innere Reifung.
5. Der Ruf zur Umkehr: Nicht Grosse tun, sondern Wesentliches tun
Johannes spricht von „Umkehr“.
Oft missverstanden als moralischer Zeigefinger, ist sie im Grundtext ein existenzielles Wort:
Metanoia – ein neues Denken.
Umkehr bedeutet nicht:
„Mach alles anders!“
Sondern:
„Sieh mit neuen Augen.“
Im Advent geht es darum, den Blick so zu verändern, dass das Wesentliche sichtbar wird:
Wo ist mein Leben überfüllt?
Welche Routinen blockieren meine innere Freiheit?
Welche äusseren Dynamiken bestimmen mich stärker, als ich möchte?
Welche Sehnsucht spricht in meinem Warten?
Und: Wo bereitet Gott bereits Wege, die ich noch nicht sehe?
Diese Fragen sind spirituell – und zugleich zutiefst alltagsbezogen.
6. Adventliche Spiritualität im Alltag: Zwischen Kerzenlicht und innerer Wachheit
Warten muss geübt werden.
Vorbereitung ebenso.
Ein paar meditative Impulse können helfen, die Haltung des 2. Advents im Alltag zu verankern:
Eine kurze tägliche Pause, in der bewusst nichts entschieden wird.
Ein stiller Atemzug, der erinnert: Warten ist Beziehung.
Ein bewusstes Wahrnehmen der eigenen Reizfilter, besonders bei hoher Sensitivität.
Ein innerer Satz, der Raum schafft, z. B.:
„Ich warte nicht leer – ich warte wach.“
Ein kleiner Verzicht, nicht aus Askese, sondern aus Klarheit.
Ein Gespräch, das nicht organisiert, sondern Begegnung schafft.
So entsteht Raum für eine Haltung, die Johannes beschreibt:
Erwartung, die nicht hetzt, sondern öffnet.
Vorbereitung, die nicht überfordert, sondern sortiert.
Warten, das nicht lähmt, sondern nährt.
7. Schluss: Advent als Einladung zur Tiefe
Der 2. Advent führt uns mitten hinein in das Paradox unseres Lebens:
Wir sind Wesen, die warten müssen – und Wesen, die sich vorbereiten dürfen.
Johannes der Täufer ruft nicht zu Aktivismus auf.
Er ruft zu Klarheit, zu Stille und zu Ausrichtung auf den, der kommt.
Seine Botschaft schafft Raum für das Wesentliche:
Für Beziehung, für Vertrauen, für Verantwortung –
und für eine Zukunft, die bereits leise an die Tür klopft.
Advent ist damit nicht nur ein liturgischer Zeitraum.
Advent ist eine Haltung.
Eine Haltung, die uns lehrt, dass Warten der erste Schritt der Begegnung ist –
und die Vorbereitung der Raum, in dem Gott und Mensch sich finden.

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