4. Advent – Wenn Nähe wichtiger wird als Geschwindigkeit
- rogertroger
- vor 7 Tagen
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Der vierte Advent ist kein lautes Fest.
Er ist kein Aufbruch mehr, kein Mahnruf, kein Weckruf wie die Wochen zuvor.
Er ist Nähe.
Während der erste Advent den Blick weitet, der zweite zur Umkehr ruft und der dritte eine paradoxe Freude inmitten des Wartens eröffnet, verdichtet sich im vierten Advent alles. Zeit, Erwartung, Hoffnung – sie rücken zusammen. Es ist, als würde die Welt den Atem anhalten.
Theologisch gesehen stehen wir an einer Schwelle. Nicht mehr vor einer abstrakten Verheissung, sondern vor einer konkreten Geburt. Gott bleibt nicht Idee, nicht Prinzip, nicht moralische Forderung. Gott wird Nähe. Körper. Verletzlichkeit.
Und genau darin liegt eine Herausforderung für unsere Zeit.
Nähe als Zumutung in einer beschleunigten Welt
Wir leben in einer Kultur der Geschwindigkeit. Entscheidungen sollen effizient sein, Antworten sofort verfügbar, Prozesse optimiert. Auch Spiritualität wird oft funktionalisiert: Sie soll beruhigen, leistungsfähig machen, uns „besser funktionieren“ lassen.
Der vierte Advent widerspricht dem.
Er lädt nicht zur Beschleunigung ein, sondern zur Verlangsamung. Nicht zur Kontrolle, sondern zum Vertrauen. Nicht zur Distanz, sondern zur Nähe – auch zu dem, was in uns selbst ungeklärt, fragil oder widersprüchlich ist.
Gerade für hochsensitive Menschen ist dies ambivalent. Nähe wird intensiv erlebt. Erwartungen, Stimmungen, unausgesprochene Spannungen – all das ist spürbar. Advent kann dann schnell überfordernd werden: Termine, Familienkonstellationen, Emotionen.
Der vierte Advent sagt leise:
Du musst nicht alles ordnen, bevor Gott kommt.
Du musst nicht „bereit“ sein im funktionalen Sinn.
Du darfst einfach da sein.
Maria – eine Spiritualität des Dazwischen
Im Zentrum des vierten Advents steht Maria.
Nicht als entrückte Heilige, sondern als junge Frau in einer existenziellen Zwischenzeit.
Maria lebt im Dazwischen:
zwischen Zusage und Erfüllung,
zwischen Vertrauen und Ungewissheit,
zwischen Hoffnung und körperlicher Realität.
Ihr Weg ist kein triumphaler Glaubensweg. Er ist still, tastend, hörend. Maria stellt Fragen. Sie bewahrt Worte in ihrem Herzen. Sie trägt – im wörtlichen wie im geistlichen Sinn.
Für eine theologisch-ethische Betrachtung ist das zentral: Gottes Handeln geschieht nicht über Macht oder Überwältigung, sondern über Zustimmung, Beziehung und Zeit. Das „Ja“ Mariens ist kein heroischer Akt, sondern ein Akt der Offenheit.
Im vierten Advent wird deutlich:
Gott zwingt sich nicht auf.
Gott wartet – auf Raum, auf Einwilligung, auf Vertrauen.
Warten ist kein passiver Zustand
Warten wird oft als Mangel erlebt. Als etwas, das erst überwunden werden muss, damit „das Eigentliche“ beginnen kann. Der vierte Advent korrigiert diese Sicht.
Warten ist hier ein aktiver, innerer Prozess.
Ein Aushalten von Nichtwissen.
Ein Bleiben bei dem, was noch unfertig ist.
Aus ökonomischer Perspektive ist das irritierend. Produktivität entsteht scheinbar durch Aktivität, nicht durch Innehalten. Doch nachhaltige Entscheidungen – persönlich wie gesellschaftlich – entstehen selten unter maximalem Tempo. Sie brauchen Reifung.
Der vierte Advent erinnert daran, dass auch das Unfertige Würde hat.
Neurosensitivität und Inkarnation
Gerade hochsensitive Menschen erleben die Spannung des vierten Advents besonders stark. Die Welt wird lauter, dichter, emotional aufgeladener – und gleichzeitig steigt das Bedürfnis nach Rückzug, Stille und Schutz.
Die Inkarnation – dass Gott Mensch wird – ist hier keine Nebensache, sondern eine zutiefst tröstliche Aussage: Gott scheut Reizüberflutung nicht, sondern tritt in sie ein. Gott wird Teil einer verletzlichen, lauten, widersprüchlichen Welt.
Nicht um sie zu übergehen, sondern um sie von innen her zu verwandeln.
Das bedeutet nicht, dass alles sofort gut wird. Aber es bedeutet: Kein innerer Zustand ist Gott fremd. Keine Überforderung, keine Müdigkeit, keine Ambivalenz.
Ethische Konsequenz: Nähe zulassen
Der vierte Advent stellt eine leise, aber anspruchsvolle Frage an unser Handeln:
Wo vermeiden wir Nähe, weil sie uns verlangsamt?
Wo ziehen wir uns auf Prinzipien zurück, um Beziehung nicht aushalten zu müssen?
Ethik beginnt nicht mit grossen Programmen, sondern mit Aufmerksamkeit. Mit dem Aushalten des Konkreten. Mit der Bereitschaft, sich berühren zu lassen – auch dort, wo es unbequem ist.
Maria zeigt keine fertige Ethik. Sie lebt Beziehung. Sie trägt Verantwortung, ohne alles zu überblicken. Das ist vielleicht eine der tiefsten Lektionen dieses Adventssonntags.
Ein stiller Übergang
Der vierte Advent ist kein Abschluss. Er ist Übergang.
Er lädt nicht ein, alles zu verstehen – sondern alles Erwartende zu sammeln.
Vielleicht ist genau das seine Botschaft für unsere Zeit:
Nicht alles muss sofort geklärt sein.
Nicht jede Spannung muss aufgelöst werden.
Manches darf einfach getragen werden.
Im Kerzenlicht dieses Sonntags wird es enger, wärmer, stiller.
Und vielleicht entsteht genau dort Raum – nicht für Perfektion, sondern für Menschlichkeit.
Impulse zum Weiterdenken:
Wo erlebe ich gerade ein „Dazwischen“ – und wie gehe ich damit um?
Welche Form von Nähe meide ich, obwohl sie mir eigentlich gut tun würde?
Was müsste ich nicht lösen, sondern nur tragen?
Wie würde mein Alltag aussehen, wenn ich dem Unfertigen mehr Vertrauen schenken würde?
Der vierte Advent antwortet nicht laut.
Aber er bleibt.

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