Karfreitag – Der Schrei der Stille
- rogertroger
- 18. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Karfreitag ist der tiefste Punkt des christlichen Kirchenjahres. Ein Tag der Stille, der Erschütterung, des Abschieds. Für viele neurosensitive Menschen ist Karfreitag ein besonderer Tag – nicht weil er leicht zu ertragen wäre, sondern gerade deshalb, weil er die Spannung aushält, die sie täglich erleben: zwischen Licht und Dunkel, Hoffnung und Schmerz, Anerkennung und Ablehnung. Es ist ein Tag, der ambivalent bleibt – und gerade dadurch tief berührt.
Vom Hosianna zum „Kreuzige ihn!“ – die Ambivalenz menschlicher Reaktionen
Am Palmsonntag wurde Jesus in Jerusalem empfangen wie ein König. Menschen breiteten ihre Kleider auf dem Weg aus, riefen „Hosianna dem Sohn Davids“ (Mt 21,9). Nur wenige Tage später jedoch schreit dieselbe Menge: „Kreuzige ihn!“ (Mt 27,22). Diese dramatische Kehrtwende ist kein bloßer Stimmungsumschwung – sie spiegelt eine tiefe menschliche Wahrheit: Die Nähe von Bewunderung und Ablehnung, von Hoffnung und Enttäuschung.
Für vielwahrnehmende Menschen, die oft feine Schwingungen in sozialen Situationen spüren, ist diese Ambivalenz besonders spürbar. Sie nehmen früh wahr, wenn sich Stimmungen verändern, wenn Unterstützung in Distanz umschlägt, wenn Nähe plötzlich Unsicherheit weckt. Karfreitag legt diesen Bruch offen: Der Mensch ist nicht konstant in seiner Treue. Er ist schwankend, verführbar, ängstlich – und darin nicht böse, sondern zutiefst menschlich.
Gemeinschaft in der Einsamkeit – der Blick vom Kreuz
Jesus stirbt nicht in Abgeschiedenheit, sondern öffentlich. Und doch ist sein Tod von einer radikalen Einsamkeit geprägt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34). Es ist der vielleicht erschütterndste Satz der Evangelien – ein Schrei, der bis heute nachhallt.
Gerade für erhöht neurosensitive Menschen ist dieses Moment existentiell. Viele erleben in emotionalen Ausnahmezuständen eine tiefe Form der Isolation – nicht nur äusserlich, sondern innerlich. Sie tragen Gefühle, die schwer teilbar sind, deren Tiefe schwer zu vermitteln ist. Der Schrei Jesu am Kreuz ist kein theologisches Lehrstück – er ist ein Echo dieser Erfahrung. Er zeigt: Auch der Sohn Gottes kennt diese Leere. Auch er schreit – und wird nicht sofort getröstet. Das ist keine Glaubensschwäche. Es ist gelebter Glaube in der Nacht.
Wer bleibt, wenn es dunkel wird?
Im Gegensatz zu den begeisterten Massen am Palmsonntag stehen am Kreuz nur wenige. Maria, die Mutter Jesu. Einige Frauen. Der Jünger, den Jesus liebte. Die grosse Zahl ist verstummt, verschwunden, abgetaucht. Was bleibt, ist eine kleine Gemeinschaft der Treue – nicht stark, nicht laut, aber standhaft in der Nähe zum Leid.
Diese stille, tragende Präsenz ist besonders für vielwahrnehmende Menschen ein Leitbild: Es braucht nicht viele Worte, nicht viele Taten – es braucht ein Dasein. Ein Aushalten. Ein Mitgehen. Nicht wegschauen, wenn es schmerzt. Nicht weglaufen, wenn es kompliziert wird. Diejenigen, die am Kreuz stehen bleiben, zeigen: Gemeinschaft offenbart sich nicht in Zeiten des Erfolgs, sondern in der Dunkelheit.
Karfreitag heute – ein Tag für das Aushalten
In einer Welt, die oft schnelle Lösungen fordert, bietet Karfreitag keine. Er lädt ein, nicht zu verdrängen, sondern zu verweilen. Er lädt ein, dem Schmerz Raum zu geben, ohne sich darin zu verlieren. Für erhöht neurosensitive Menschen kann dies heilsam sein: Endlich ist da ein Tag, der nicht überfordert mit Aktivismus, sondern der ruft: Bleib stehen. Schau hin. Weine, wenn du musst. Aber bleib.
Karfreitag ist kein Tag der Erklärung. Er ist ein Tag der Gegenwart. Ein Tag, an dem auch Jesus die Ambivalenz menschlicher Herzen trägt. Ein Tag, an dem Gemeinschaft nicht laut, sondern treu ist. Ein Tag, an dem auch die tiefsten Seelen wissen: Sie sind nicht allein.
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