Zeitumstellung: Vom „Human Doing“ zum „Human Being“
- rogertroger
- 27. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Wenn Ende Oktober die Uhren zurückgestellt werden, geschieht mehr als nur eine technische Anpassung. Die Tage werden kürzer, das Licht zieht sich zurück, und mit ihm weicht auch die Geschäftigkeit des Sommers. Für viele Menschen – besonders für neurosensitive – ist dieser Übergang spürbar: das diffuse Licht, die frühe Dunkelheit, das veränderte Tempo der Welt. Doch gerade in dieser Veränderung liegt eine Einladung.
Im Englischen bedeutet Mensch Human Being – ein „seiendes Wesen“. Doch wir verhalten uns oft, als wären wir Human Doings – „tätige Wesen“. Wir funktionieren, planen, erledigen, optimieren. Die Zeitumstellung erinnert uns daran, dass das Sein vor dem Tun kommt. Dass das Leben nicht in erster Linie eine Liste von Aufgaben ist, sondern ein Rhythmus, ein Atem.
Das Licht als Lehrer
Das Sonnenlicht wird nun spärlicher – aber gerade das hilft uns, genauer hinzusehen. Wenn das Äussere dunkler wird, wird das Innere sichtbarer. Wir beginnen, leiser zu hören: den Herzschlag, die Gedanken, die kleinen Bewegungen des Empfindens. Für erhöht neurosensitive Menschen ist das Licht nicht nur Helligkeit, sondern Information. Es beeinflusst Stimmung, Aufmerksamkeit, Schlaf, Hormone – kurz: unser gesamtes inneres Gleichgewicht. Der Rückzug des Lichts lädt uns deshalb nicht nur zum Innehalten ein, sondern zur Selbstfürsorge. Das künstliche Licht kann die Sonne nicht ersetzen. Aber die Sonne des Bewusstseins – das stille Wahrnehmen, das einfach Dasein – kann jeden inneren Raum erhellen.
Langsamer werden ist kein Verlust
In einer Welt, die Leistung mit Wert verwechselt, wirkt Langsamkeit wie ein Rückschritt. Doch wer verlangsamt, vertieft. Langsamer werden bedeutet, die eigene Wahrnehmung zu weiten. Für Menschen mit erhöhter Sensitivität ist dies eine natürliche Bewegung – ihr Nervensystem registriert feine Veränderungen, Stimmungen, Zwischentöne. Das kann anstrengend sein, aber auch zu einer besonderen Form von Weisheit führen: zur Fähigkeit, das Leben zu spüren, bevor es vorbeirauscht.
Der Herbst, der Winter – sie sind keine Gegenstücke zum Leben, sondern Teil seines Kreislaufs. Alles, was lebt, kennt Rückzug. Der Baum verliert seine Blätter, um Kraft zu sparen. Die Erde ruht, um Neues wachsen zu lassen. Auch wir dürfen ruhen. Wir dürfen weniger tun, ohne weniger zu sein.
Ein Jahresrhythmus des Bewusstseins
Vielleicht ist die Zeitumstellung also kein Verlust an Licht, sondern ein Gewinn an Tiefe. Sie erinnert uns daran, dass Menschsein kein Dauerprojekt ist, sondern eine Bewegung zwischen Aktivität und Ruhe, Aussen und Innen, Licht und Schatten. Wenn wir diesen Rhythmus respektieren, werden wir im Frühjahr, wenn die Tage wieder länger werden, nicht einfach wieder zu Human Doings – sondern bleiben Human Beings, die bewusst handeln.
Das wäre der wahre Fortschritt: nicht schneller, sondern bewusster zu leben.
Schöpfung, Sabbat und das Licht
Die Bibel erzählt, dass Gott die Welt in sechs Tagen schuf – und am siebten Tag ruhte. Dieses Ruhen war kein Leerlauf, sondern Teil der Schöpfung selbst. Der Sabbat ist Ausdruck dieser göttlichen Balance: zwischen Schaffen und Lassen, Tun und Sein. Auch in uns lebt dieser Rhythmus fort. Wenn die Erde ruht, ruft sie uns zur Erinnerung: Wir sind Geschöpfe, nicht Maschinen. Wir sind Teil eines grösseren Atems.
Im Johannesevangelium heisst es: „Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,5). Dieses Licht ist mehr als Sonne – es ist Bewusstsein, Gegenwart, Leben. Wer vielwahrnehmend ist, spürt es oft intensiver: das feine Strömen zwischen Innen und Aussen, das Aufleuchten von Sinn im scheinbar Gewöhnlichen. Vielleicht ist genau das unsere Aufgabe in dieser Jahreszeit: das Licht nicht festzuhalten, sondern ihm Raum zu geben – in uns.
Impulse zum Abschluss
Was passiert, wenn Du Dir erlaubst, einfach zu sein – ohne etwas zu leisten?
Welche Rhythmen Deines Körpers, Deiner Familie, Deiner Seele sprechen gerade jetzt zu Dir?
Wie könntest Du den November bewusst als Monat des langsamer Werdens gestalten?
Denn die Zeitumstellung stellt nicht nur die Uhr zurück – sie erinnert uns daran, dass wir auch uns selbst zurückstellen dürfen. Nicht in der Leistung, sondern ins Leben. Nicht ins Tun, sondern ins Sein.
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